Samstag, 6. April 2024

Inge von Wangenheim

Inge von Wangenheim im Moskauer Exil, 1930er Jahre


Inge von Wangenheim wurde 1912 als Tochter einer Konfektionsarbeiterin in Berlin geboren. Sie besuchte das Chamisso-Lyzeum und wurde dann Schauspielerin im Piscator-Kollektiv und der Truppe 1931. 1930 trat sie der KPD bei. Von 1933 bis 1945 war sie in der Emigration. Über Belgien und Frankreich gelangte sie in die UdSSR. Dort arbeitete sie in Moskau als Schauspielerin, Journalistin und Redakteurin. Sie spielte unter anderem neben Bruno Schmidtsdorf die Hauptrolle des 1935/36 in Moskau gedrehten antifaschistischen Films Kämpfer unter der Regie ihres Mannes Gustav von Wangenheim. 1941 wurde sie nach Kasan und später ins usbekische Taschkent evakuiert. Ab 1943 hielt sie sich wieder in Moskau auf, wo sie als Redakteurin für das Nationalkomitee Freies Deutschland arbeitete.

Nach ihrer Rückkehr 1945 aus der Emigration war sie Schauspielerin und Regisseurin am Deutschen Theater, an der Bühne Fritz Wistens, bei der DEFA und beim Fernsehen der DDR. Auch als Journalistin betätigte sie sich. 1946 trat sie der SED bei und engagierte sich in den folgenden Jahren im Bund Deutscher Volksbühnen, gab die Zeitschrift "Volksbühne" heraus und war weiter als Schauspielerin und Regisseurin tätig.

Schriftstellerisch betätigt sie sich seit 1950. Sie schrieb Romane, Reiseberichte, Essays, Anekdoten und Erinnerungen, für die sie mit dem Nationalpreis für Kunst und Literatur der DDR geehrt wurde. In Romanen schrieb sie über die Aufbauphase der DDR (zum Beispiel mit "Am Morgen ist der Tag ein Kind" eine Schilderung des Aufstands vom 17. Juni 1953 aus SED-Perspektive). Erwähnenswert sind vor allem ihre Erinnerungen an die Zeit im sowjetischen Exil ("Mein Haus Vaterland" und "Auf weitem Feld"). Dass das Exil auch Schattenseiten hatte, darüber schwieg sie beharrlich.

Sie war Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes der DDR. 

Nach der Scheidung von ihrem Mann lebte sie ab 1961 in Rudolstadt und ab 1974 in Weimar, ab 1960 in einer lesbischen Beziehung.

Inge von Wangenheim starb am 6. April 1993 in Weimar. 


Professor Hudebraach



Donnerstag, 15. Februar 2024

Betty Smith

Betty Smith, 1943, gemeinfrei

Die US-amerikanische Schriftstellerin Betty Smith wurde als Elisabeth Lillian Wehner am 15. Dezember 1896 in Brooklyn, New York, geboren. Ihr bei uns bekanntestes Buch und zugleich ihr Debüt ist "Ein Baum wächst in Brooklyn". Es war für den Pulitzer-Preis nominiert und wurde 1945 von Elia Kazan verfilmt. 

Ihre anderen drei Werke "Tomorrow will be better" (1947), "Maggie-Now" (1949) (dt. "Verwehte Träume" und "Joy in the Morning" (1963) (dt. "Glück am Morgen") waren in Amerika Bestseller, erreichten die Top-Ten-Listen und sind in Deutschland eher unbekannt.

Die Eltern waren Deutsch-Amerikaner der ersten Generation. Die Familie - Betty hatte eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder - zog mehrmals in verschiedene Mietshäuser an der Montrose Avenue und der Hopkins Street. So richtig niedergelassen haben sie sich dann in einem Mietshaus im obersten Stockwerk der 702 Grand Street. Dieses Haus in der Grand Street galt als Kulisse für "Ein Baum wächst in Brooklyn".

In einem Interview mit der The New York Times (18. Januar 1972) soll sie gesagt haben, dass sie schon mit acht Jahren wusste, „dass ich eines Tages ein Buch schreiben würde". Sie war eine eifrige Bibliotheksgängerin und veröffentlichte mit elf Jahren zwei Gedichte. 

Die Mutter zwang sie nach der 8. Klasse, die Schule zu verlassen und die Familie mitzuernähren. Mit 18 besuchte sie die Girls' High School in Brooklyn und hatte gleichzeitig einen Nachtjob in Manhattan. Mit 20 hatte sie einen gut bezahlten Job beim Postdienst der Vereinigten Staaten, bei dem sie volltags arbeiten musste. So musste sie die Weiterbildung aufgeben.

1917 lernte sie ihren späteren Ehemann George Smith kennen, zwei Jahre später ging sie mit ihm nach Ann Arbor, Michigan, wo er an der Universität Jura studierte. Sie heirateten am 18. Oktober 1919 und bekamen zwei Mädchen. Erst als beide zur Schule gingen, nahm Betty Smith ihre Weiterbildung wieder auf. Sie schrieb sich an der Ann Arbor High School ein, was der Schulleiter ungewöhnlich fand, aber er fand kein Gesetz dagegen, dass eine verheiratete Frau die Highscool besuchen durfte. Doch wieder konnte sie keinen Abschluss machen, weil ihr Mann auswärts Arbeit fand und wieder ein Umzug anstand.

Die Karriere von George Smith verlief zwar erfolgreich, aber der Beruf des Anwalts war für ihn unbefriedigend. So ging die Familie wieder nach Ann Arbor zurück. Trotz der nicht abgeschlossenen Highscool durfte Betty Smith an der Universität Kurse als Sonderschülerin besuchen, ohne sich immatrikulieren zu müssen.

Während dieser Zeit begann sie nun auch ernsthaft zu schreiben. Sie reichte Artikel bei Zeitungen ein und schrieb Theaterstücke. Sie liebte das Theater:

"In all den Jahren meines Heranwachsens habe ich mindestens ein Theaterstück pro Woche gesehen. Ich erledigte Besorgungen, opferte kindisch Penny-Bonbons, kümmerte mich um Babys und brachte Pfandflaschen mit. Ich hatte ein Ziel: Einen Cent pro Woche zusammenzubringen, um die Samstagsmatinee bei einer der drei Brooklyner Aktiengesellschaften in unserer Nachbarschaft zu sehen."

Die Familie hatte finanzielle Sorgen, doch diesmal nahm sie keine Teilzeitjobs an, sondern setzte ihre schriftstellerischen Bemühungen fort.

Seit Ender der 1930er Jahre begann sie, sich an einem Roman versuchen. Sie wollte über etwas schreiben, das ihr vertraut war.  Und so richtete sich ihr Blick auf die Mietskasernen und Straßen von Brooklyn. Drei ihrer vier geschriebenen Bücher hatten Brooklyn zum Schauplatz. 

Vor allem aufgrund der Untreue ihres Mannes trennten sich Betty und George und ließen sich 1938 scheiden. Betty Smith heiratete noch zweimal, doch mit beiden Männern hatte sie kein Glück. Mit dem einen hatte sie absolut nichts gemeinsam. Der andere, der ein langjähriger Freund und Weggefährte war, hatte Alkohol- und Herz-Kreislauf-Probleme und starb 1959.

Am 17. Januar 1972 starb Betty Smith im Alter von 75 Jahren in Shelton, Connecticut, an einer Lungenentzündung.

 

Karin Michaëlis

Die dänische Journalistin und Schriftstellerin gehört zu den vergessenen Autorinnen. Am 20. März 1872 wurde sie als Katharina Marie Bech-Brondum in Randers geboren. Als Kind schielte sie und wurde erfolgreich von Dr. Gad in Horsens operiert. Mit 20 zog sie nach Kopenhagen, lernte den Schriftsteller Sophus Michaëlis kennen und heiratete ihn. Beide schrieben für den Lebensunterhalt Theaterrezensionen. Nach 29 Jahren wurde die Ehe geschieden und Karin heiratete den amerikanischen Diplomaten Charles Emil Stangeland. Der sah weder ihre literarische noch ihre politische Tätigkeit gerne. Noch dazu, wo sie gerade mit „Das gefährliche Alter“ (1910) ihren Durchbruch als Autorin erlebte. Auch diese Ehe ging in die Brüche (1917).

Eine lebenslange Freundin war ihr die Pädagogin Eugenie Schwarzwald, die sie auf einer Lesereise in Wien kennenlernte. Eine weitere Freundin wurde Helene Weigel, die sie 1919 zum Vorsprechen in der Wiener Volksbühne begleitete und darüber in der Vossischen Zeitung berichtete.

1932 erhielt Karin für ihre karitative Arbeit in Österreich das Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich und den Orden des Weißen Löwen in der Tschechoslowakei.

Karin Michaëlis warnte schon früh vor der Gefahr, die von Hitler und Mussolini ausging und nahm 1932 am Antikriegskongress in Amsterdam teil. Schon ab 1933 nahm sie Emigranten auf ihrem Anwesen auf, u. a. Helene Weigel, Maria Lazar und Bertolt Brecht. Sie selbst emigrierte 1940 nach Amerika und kehrte 1946 nach Dänemark zurück.

In dem Buch „Ein gefährliches Alter“ schrieb sie über die sexuellen Wünsche einer Frau von 40 Jahren. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Auch ihre 1929 bis 1938 entstandene Serie von Büchern über die Entwicklungsgeschichte des Mädchens Bibi wurde sehr erfolgreich. Doch für Neuauflagen hat es bis heute nicht gereicht. Mit einer Ausnahme: „Ein gefährliches Alter“ erschien 2005 im Suhrkamp-Verlag. Und man kann es online lesen.

Karin Michaëlis starb am 11. Januar 1950 in Kopenhagen. 


Zitat

Die chinesischen Lyriker und Philosophen pflegten ins Exil zu gehen wie die unsern in die Akademie. Es war üblich. Viele flohen mehrere Male, aber es scheint Ehrensache gewesen zu sein, so zu schreiben, daß man wenigstens einmal den Staub seines Geburtslandes von den Füßen schütteln mußte. Ich komme auf die chinesischen Weisen auch deshalb, weil ich Dich auf Thurø mit den Fischern und Studenten reden hörte und weil ich an Deine tausend Geschichten über Land und Leute denke, die Du leider nicht aufschreibst. Aber vielleicht schreibst Du sie in zwanzig oder dreißig Jahren auf, dann werden es zweitausend sein. Sie werden mir nicht ausreichen.

(Bertolt Brecht, Geburtstagsbrief an Karin Michaelis, März 1942) 


Werke

Das gefährliche Alter (1910)


Dienstag, 19. Dezember 2023

Marta Lynch

 Marta Lynch, geboren am 8. März 1925 in Buenos Aires, hat Zeit ihres Lebens vor dem Altern Angst gehabt, Angst besonders vor den Auswirkungen auf Körper und Geist. In Cristina Muccis Biografie "La Señora Lynch" ist zu lesen, dass sie ihren Kindern mitteilte, dass sie sie nicht mit achtzig Jahren sehen würden. Ständige Diäten und Schönheitsoperationen waren ihre Begleiter. In ihrem Haus befanden sich keine Spiegel; sie mochte ihr eigenes Gesicht nicht sehen.

Als sie 60 ist, hält sie es nicht mehr aus, kann dieses Gefängnis, wie sie ihr Leben bezeichnet, nicht mehr ertragen und erschießt sich am 8. Oktober 1985. 

Ob ihr Geburtsjahr stimmt, ist unsicher. Sie soll oft geschummelt haben, sich fünf bis sieben Jahre jünger gemacht habe; auf Buchumschlägen, in Interviews, selbst gegenüber der Familie und Freunden.

Mit ihrem ersten Mann hatte sie eine kurze und unglückliche Ehe. Ihren zweiten Mann, Juan Manuel Lynch, lernte sie schon während ihres Philologiestudiums an der Universidad de Buenos Aires kennen. Er war Jurist; bei ihm reichte sie später die Scheidung ein und die beiden verliebten sich. Sie bekamen zwei Kinder, Marta Juana und Enrique. 

Marta Lynch unterhielt mehrere Affären, die von ihrem Mann gebilligt wurden, da er wusste, dass sie diese Freiheit für ihr Glück oder zumindest für ihre Stabilität brauchte.

Sie schrieb gesellschaftskritisch. Schon ihr erstes Buch "La alfombra roja" (1962) erregte großes Aufsehen, da sie über einen rücksichtslosen Politiker schreibt, der menschenverachtend seinen Weg an die Macht verfolgt. Auch in ihrem zweiten Roman, "Al vencedor", geht es ähnlich schonungslos um den Zerfall einer Gesellschaft. Die Schere zwischen einem kleinen privilegierten Teil und den Verlierern der Gesellschaft wird immer größer, sodass keine Verständigung, geschweige denn Annäherung mehr möglich ist.

Gemeinsam mit zum Beispiel Silvina Bullrich, Beatriz Guido, Sara Gallardo oder Sara Gallardo gehörte Marta Lynch in den 1950er und 1960er Jahren  zu einer Gruppe argentinischer Schriftstellerinnen sowohl beliebt als auch umstritten waren. Die Literaturwissenschaftlerin Lynch hielt Vorträge in Europa und ganz Amerika. Als Schriftstellerin wurde sie zu einer der zehn besten Geschichtenerzählerinnen erklärt. Ihr Werk besteht aus sieben Romanen und neun Sammlungen von Kurzprosa.

Ihre politische Haltung ändert sich im Lauf ihres Lebens. Im November 1972 reiste sie in der Charta, die Juan Perón zurückbrachte. Sie war zum Beispiel eine Rebellin, eine Anhängerin von Montonero (eine argentinische Stadtguerilla), eine Verteidigerin der Militärjunta.

In den Medien, zumeist in Zeitungen und Wochenzeitschriften, ist sie ständig präsent. Die Themen sind breit gefächert: das größte und bekannteste Seebad Mar del Plata als Sommerresort, ihr neuester Roman, Politik, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, Sport oder die Bedeutung von Dulce de Leche (Milchkaramell) für die nationale Identität. Sie gab gerne zu allem ihre Meinung ab.

Das war in den 1960er/70er Jahren. Da gab es in allen Zeitungen wöchentliche Interviews mit Autor*innen: Borges, Sábato, Bioy, Mujica Láinez, Silvina Bullrich, Beatriz Guido, Dalmiro Sáenz, Marco Denevi und viele andere.

Später schrieb Fabián Casas in einem seiner Essays, dass sich die Situation geändert hat: „In Argentinien nimmt der Schriftsteller keinen Platz ein, niemand kümmert sich darum, was ein Dichter oder Romanautor sagt, ganz zu schweigen von den Philosophen. Dieses Ignorieren ist ein Segen, es hilft Schriftstellern, mit geschlossenem Mund zu schreiben und nur an ihre Arbeit zu denken.“

Sohn Enrique über seine Mutter: „Meine Mutter war zu Lebzeiten eine sehr berühmte Frau. Mit ihr auszugehen war, als würde man Arm in Arm mit einer Coca-Cola-Werbung laufen. Irgendwie nervig, wirklich. Aber ihre Bekanntheit machte sie glücklich. Ich habe sie einmal sagen hören, dass sie gerne eine Maipo-Vedette (Theatertänzerin) gewesen wäre, was natürlich ein Scherz war, aber mit echtem Hintergrund.“

Quelle: infobae.com


Leseprobe aus Erkundungen - 20 argentinische Erzähler, Verlag Volk und Welt Berlin, 1. Auflage 1975


Schlachtfeld

Die beiden Mädchen - die eine etwas älter als die andere - schritten entschlossen auf das Portal zu, doch dann, auf der Schwelle, zögerten sie.

"Soll ich dich hierlassen?" fragte die Jüngere.

Sie war groß und kernig. Getuschte Wimpern, Häkellook-Strümpfe, schöne Katzenaugen. Das breite Becken wölbte den Rock seitwärts, darüber trug sie eine Wildlederjacke, die sich eng an Schultern und Brüste schmiegte.

"Eine Bombe", sagte der Detektiv am Eingang und stocherte in den Zähnen herum.

Der Polizist hingegen überlegte, daß der Sechsundzwanzigste des Monats da war und er nicht einen Centavo in der Tasche hatte und daß sein Weib, eine Kreolin in den Fünfzigern, dick und sehr sanftmütig war.

"Jaja", brummte er, nur um nicht als Stoffel dazustehen...


Sonntag, 17. Dezember 2023

Marguerite Yourcenar

 Marguerite Yourcenar war eine französische Schriftstellerin, geb. am 8. Juni 1903 in Brüssel. Geboren wurde sie als Marguerite Antoinette Jeanne Marie Ghislaine Cleenewerck de Crayencour. Ihre Mutter starb im Kindbett, so wuchs Marguerite im französischsprachigen Wallonien auf und begann schon als Jugendliche mit dem Schreiben. Nachdem ihr Vater starb war sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ständig auf Reisen und führte ein Nomadenleben.

Neben ihren eigenen Werken (Romanen, Essays, Theaterstücken und Artikel) veröffentlichte Marguerite Yourcenar Übersetzungen von Romanen, Gospels und Kindergeschichten aus Indien vom Englischen sowie von altgriechischen Gedichten ins Französische.

Marguerite Yourcenar war Vegetarierin und setzte sich gegen die Robbenjagd ein. 1980 wurde sie als erste Frau in die Académie française aufgenommen. Sie erhielt viele Preise und Ehrungen. Mehrere Forschungsinstitute in Europa und in den USA befassen sich mit dieser außergewöhnlichen Frau und ihrem Werk.

Am 17. Dezember 1987 starb Marguerite Yourcenar in den USA.

Dienstag, 14. November 2023

Hermynia Zur Mühlen

Hermynia zur Mühlen, Zeichnung von Emil Stumpp

 „Wenn ich an die Auflagen denke, die ich noch vor zehn Jahren in Deutschland hatte! Heute sind meine Bücher verbrannt, und eigentlich freut es mich. Wie kommen die dort drüben dazu, etwas zu lesen, das ein anständiger Mensch geschrieben hat. Sie sollen sich an ihre eigenen Schriftsteller halten. An die Leute, die immer alles mitgemacht haben, die, wenn sie erklären, daß die Kunst unpolitisch sei, eigentlich meinen, man dürfe es sich mit keinem verderben. Man kann ja nie wissen. Pack.“

Hermynia Isabelle Maria Zur Mühlen, auch Hermynia zur Mühlen, geborene Hermine Isabelle Maria Folliot de Crenneville wurde am 12. Dezember 1883 als Tochter des Diplomaten Viktor Graf Folliot de Crenneville-Poutet in Wien, Österreich-Ungarn geboren. Die Familie entstammte dem Hochadel der österreichisch-ungarischen Monarchie.



Schon als Kind und Jugendliche begleitete sie ihren Vater auf ausgedehnte Reisen nach Vorderasien und Afrika. Zunächst erhielt sie Privatunterricht, besuchte dann das Sacre Cœur in Algier und später ein Pensionat für höhere Töchter in Dresden. Sie war examinierte Volksschullehrerin und arbeitete in einer Druckerei.

1908 heiratete sie gegen den Wunsch der Eltern den deutschbaltischen Großgrundbesitzer Victor von zur Mühlen und folgte ihm auf sein Landgut nach Eigstfer (heute Eistvere, Gemeinde Imavere, Kreis Viljandi) im heutigen Estland. Nach einer unglücklichen Ehe ließ sich Hermynia nach 12 Jahren scheiden.

Sie war entsetzt über die Besitzlosigkeit der einheimischen estnischen und livländischen Landbevölkerung im Baltikum. Gemeinsam mit dem Dichter Hans Kaltneker, den sie 1913 kennenlernte, übersetzte sie Gedichte.

Zwischen 1914 und 1919 war sie nach einer Tuberkuloseerkrankung zur Erholung in der Schweiz, von wo aus sie mit großer Sympathie die Oktoberrevolution 1917 in Russland verfolgte.

Dann zog sie nach Deutschland, wo sie der KPD beitrat. Sie lebte mit ihrem Lebensgefährten und späterem Ehemann, dem jüdischstämmigen Übersetzer und Journalisten Stefan Isidor Klein (1889 –1960), in Frankfurt am Main und Berlin. Vornehmlich in "Die Rote Fahne" und "Der Revolutionär" veröffentlichte sie zahlreiche Essays.

Hermynia Zur Mühlen war eine fleißige Schreiberin. Im Berliner Malik-Verlag wurden 1921 ihre von George Grosz illustrierten proletarischen Märchen "Was Peterchens Freunde erzählen" veröffentlicht. Sie schrieb Romane und Kurzgeschichten (meist mit zeitkritischem und antifaschistischem Inhalt), Krimis, Kinder- und Jugendbücher und andere Prosa und verfasste Hörspiele. Und sie schrieb unter verschiedenen Pseudonymen: Franziska Maria Rautenberg, Franziska Maria Tenberg, Traugott Lehmann und Lawrence H. Desberry.

Zudem war sie Übersetzerin von gut 150 Romanen und Erzählungen aus dem Russischen, Englischen und Französischen ins Deutsche. In der Weimarer Republik war sie als "rote Gräfin" eine der bekanntesten kommunistischen Kolumnistinnen und Publizistinnen.

Für ihre Propagandaerzählung "Schupomann Karl Müller" (1924) wurde sie wegen Hochverrats angeklagt, zwei Jahre später aber freigesprochen.

In einem vielbeachteten Brief an ihren Verleger schreibt sie 1933: „Da ich Ihre Ansicht, das Dritte Reich sei mit Deutschland (…) identisch, nicht teile, kann ich es weder mit meiner Überzeugung noch mit meinem Reinlichkeitsgefühl vereinbaren, dem unwürdigen Beispiel der von Ihnen angeführten vier Herren (Alfred Döblin, René Schickele, Stefan Zweig und Thomas Mann beendeten ihre Mitarbeit an der von den Nationalsozialisten angegriffenen Zeitschrift Die Sammlung) zu folgen, denen scheinbar mehr daran liegt, in den Zeitungen des Dritten Reiches, in dem sie nicht leben wollen, gedruckt, und von den Buchhändlern verkauft zu werden, als treu zu ihrer Vergangenheit und zu ihren Überzeugungen zu stehen. […]“

Als die Nationalsozialisten dann an die Macht kamen, ging Hermynia zur Mühlen 1933 nach Wien zurück. Hier schloss sie sich der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller an. Ihre Werke wurden vom NS-Regime auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt. Sie distanzierte sich von der KPD, warnte aber weiterhin vor dem Faschismus. 1938 flüchtete sie gemeinsam mit Stefan Klein nach Bratislava, wo sie heirateten. Auch hier fanden sie keine Ruhe; emigrierten im März 1939 nach England, wo sie ihre schriftstellerische Arbeit fortsetzte.

Bis 1948 konnten sie sich ein Leben in London leisten, doch dann - verarmt und schwer erkrankt - lebten sie nördlich der britischen Hauptstadt. Sie arbeitete zwar noch, erhielt aber keine Aufmerksamkeit mehr. Ihr Nachlass gilt als verschollen.

Ihre Werke wurden nach dem Zweiten Weltkrieg erst mal nur in Österreich und der DDR vertrieben.

Am 20. März 1951 starb Hermynia zur Mühlen in Radlett, Grafschaft Hertfordshire, Großbritannien.

Donnerstag, 1. Juni 2023

Tove Ditlevsen

Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern, sonst ist es keine Kunst. Man muss das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.

Tove Ditlevsen, Kindheit


Tove Ditlevsen 14.12.1917 - 0.03.1976) entstammte aus dem Kopenhagener Arbeitermilieu des Stadtteils Vesterbro. 

Sie ging mit vierzehn Jahren von der Schule ab, verließ mit siebzehn ihr Elternhaus und arbeitete als Dienstmädchen und Bürogehilfin. Schon während der Schulzeit schrieb sie Gedichte, für damalige Zeiten recht erotische Gedichte.

Ihr erster Ehemann war der Schriftsteller und Journalist Viggo Frederik Møller und er war dreißig Jahre älter als sie. Er veröffentlichte 1937 eines ihrer Gedichte in seiner Literaturzeitschrift Wilder Weizen. Im Jahr ihrer Hochzeit (1939) debütierte sie mit der Gedichtsammlung Pigesind (Mädchensinn). 

Später folgten drei weitere Ehemänner: Ebbe Munk (1916–1970), mit dem sie eine Tochter hatte: Helle Munk (1943–2008); Carl T. Ryberg (1945–1950), mit dem sie einen Sohn hatte: Michael Ryberg (1946–1999); und Victor Andreasen (1951–1976), mit dem sie einen Sohn hatte: Peter Andreasen (geb. 1954).

Durch Carl T. Ryberg, Arzt von Beruf, geriet sie in eine der verhängnisvollsten Perioden ihres Lebens. Bei einer Abtreibung gab er ihr ein schmerzstillendes Mittel, von dem sie dann jahrelang abhängig war. Ihr vierter Ehemann Peter Andreasen half ihr, davon loszukommen.

Ihre Romane sind zumeist autobiografisch. Sie schreibt über ihre Jugend im Arbeitermilieu, das Scheitern ihrer Ehen, persönliche Krisen wie Selbstmordgedanken, Sucht, Entzug und Schwangerschaftsabbrüche. 

Tove Ditlevsen schreibt über die Gefühlswelt und Schicksale von Kindern, Mädchen und jungen Frauen, wobei es fast immer um ihre eigenen seelischen Konflikte ihrer Kindheit und Jugend geht. Über ihre Kindheit erzählt sie hauptsächlich Negatives. Von der Mutter fühlt sie sich ungeliebt und sie dachte immer, sie sei ein ungewolltes Kind. Das löst Ängste aus. 

Mein Verhältnis zu ihr ist eng, qualvoll und unsicher, und nach Zeichen von Liebe muss ich immer suchen. Alles, was ich tue, dient dazu, ihr zu gefallen, sie zum Lächeln zu bringen, ihren Zorn abzuwenden. Das ist eine mühsame Arbeit, weil ich gleichzeitig so viele Dinge vor ihr verbergen muss. 

Aus: Kindheit

Als Erwachsene Frau focht sie einen inneren Kampf zwischen ihrer konventionellen Rolle als Ehefrau und Mutter und ihrem starken Wunsch zum Schreiben aus. Flucht vor dem Abwasch nannte sie es mal scherzhaft. Jedoch das Schreiben war noch mehr eine Flucht vor dem Leben. 

Sie schrieb so offensichtlich über ihr Leben und ihre Beziehungen, dass sie später dafür harsche Kritik einstecken musste. Andererseits war sie mit ihren Erzählungen, Romanen und Gedichten immer eine beliebte Schriftstellerin. Dazu trug wohl auch bei, dass sie geschickt mit den Medien umgehen konnte. Unter anderem war sie die "Briefkastentante" von Dänemarks bekanntesten Illustrierten.

Die norwegische Liedermacherin Kari Bremnes produzierte 1987 ihre erste CD mit Vertonungen von Ditlevsens Gedichten.

Am 8. März 1976 fand man ihre Leiche; Tove Ditlevsen starb durch eine Überdosis Schlaftabletten. Es war für sie der letzte Ausweg aus einer unerträglich gewordenen Wirklichkeit.

Ihre letzte Ruhe fand sie auf dem Vestre Kirkegård in Kopenhagen neben ihrem Sohn Michael Ryberg, der 1999 bei einem Autounfall starb.

2021 erschienen beim Aufbau Verlag Tove Ditlevsens drei autobiographische Romane Barndom (1967), Ungdom (1967) und Gift (1971) unter den Titeln Kindheit, Jugend, Abhängigkeit in der Übersetzung von Ursel Allenstein als Kopenhagen-Trilogie auf Deutsch.

 Zur Kopenhagen-Trilogie